La Paz liegt auf 4.000 Metern ja schon hoch. Die Berge drumherum sind alle noch mal 2.000 Meter höher. Auf einen dieser Gipfel wollte ich rauf. Ich hatte mir den Huayna Potosí mit seinen 6.088 Metern auserkoren, denn er sollte relativ einfach zu besteigen sein.
Ich bin kein großer Fan von geführten Touren, aber in fremden Bergen allein herumkraxeln? Nein, danke. Und so hatte ich eine Tour mit einem Bergführer und Koch für mich allein gebucht. Ganz schön protzig, was? Ein Koch gehört bei den Reisebüro-Touren einfach dazu, und es fand sich kein anderer Tourist für die Bergbesteigung an diesem Tag.
Mit meinem Guide Marcos Antonio verstand ich mich gleich bestens. Er liebte die Berge seiner Heimat und war seit 15 Jahren schon Bergführer. Die erste Tagestour zum Campamiento Rocas war nicht schwierig, aber wir machten einige Pausen, damit sich mein Körper an die Höhe gewöhnen konnte. Ich fühlte mich pudelwohl, und durch das langsame Tempo konnten wir uns viel unterhalten - über Bolivien, La Paz und die Berge.
Marcos Antonio machte mich auf einen Gletscher aufmerksam, der nicht mehr weiß strahlte, sondern gräulich-schwarz am Hang klebte. „Noch vor fünf Jahren war der Gletscher weiß und viel länger. Durch die Erwärmung des Klimas schmilzt er. Esta malo, muy malo. Das ist sehr, sehr schlecht.“
Im Campamento Rocas (5.200 m) angekommen, schlugen wir unser Lager auf. Das Camp ist eine einfache Hütte und besteht aus einem Aufenthaltsraum mit Holzbänken- und tischen, einer kleinen Küche und einem Matratzenlager auf dem Dachboden. Es gibt keine Elektrizität und keine Heizung, also wurde es abends rattenkalt. Da außer unserer Mini-Gruppe keine weiteren Gruppen in der Hütte übernachteten, war es ganz ruhig im Campo. Nach dem Abendbrot gingen wir zeitig schlafen, in der Nacht sollte es weitergehen. In meinen Schlafsack eingerollt, konnte ich einen klaren Sternenhimmel durch ein kleines Fenster sehen. Die Vorfreude auf die Erklimmung des Huayna Potosí wuchs, sodass mir das Einschlafen schwer fiel.
Um 1:15 Uhr musste ich aufstehen (Hatte ich mich nicht erst gerade hingelegt?). Kalt, kalt, kalt. Der heiße Tee und etwas Porridge (Haferschleim) wärmten und stärkten mich. Dann ging es dick eingemummelt in die Dunkelheit. Kopflampe auf der Stirn, Krampen unter den Wanderschuhen, Eispickel am Gürtel und Wanderstock in der rechten Hand. Ich taperte hinter Marcos Antonio her, und anfangs ging es ohne Probleme. Aber dann wurde so, so anstrengend.
Mit einem Schlag war alle Kraft aus meinem Körper entwichen. Ich konnte mich nur auf meinen nächsten Schritt konzentrieren. Rechts. Links. Rechts.
Links. Nach ein paar Minuten musste ich immer wieder eine Pause einlegen – ich hatte Atemnot. Obwohl ich immer wieder tief einatmete, hatte ich das Gefühl, dass kein Sauerstoff in meine Lunge
gelangte. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.
Ein paar Mal wollte ich aufgeben und umkehren, ich fühlte mich einfach zu schlapp. Marcos machte mir immer wieder Mut „Tranquilo. Esta bien. Ruhig. Es ist gut.“ Wir legten Pause nach Pause ein .“Ok, ich schaffe das...langsam…Schritt für Schritt...tief einatmen...ausatmen...ruhig.“
Das letzte Stück gab mir den Rest. Es ging auf einmal steil bergauf, und mein Eispickel kam zum Einsatz. Ich blickte nicht mehr auf und hörte nur noch das Knirschen des Schnees unter meinen Schuhen und das Tschick, Tschick des Eispickels. Zur Krönung musste ich zum Schluss noch über einen schmalen Kamm balancieren. Auch das noch. Zu dem Zeitpunkt war mir aber alles nur noch egal.
Endlich – genau zum Sonnenaufgang – kam ich auf der Spitze des Berges an! Puh! Ich ließ mich irgendwo hinplumpsen, war einfach nur erschöpft, aber unglaublich glücklich. Ich hatte es geschafft! Erst einmal die Augen schließen, Kräfte sammeln.
Dann ließ ich meinen Blick schweifen. Was für ein Panorama! Gen Westen konnte ich in der Ferne den Titikaka See ausmachen (Ja, es gibt ihn wirklich!), gen Süden sah ich das ausufernde La Paz, gen Osten waren die grünen Yungas noch Wolken verhangen und im Norden erhoben sich weitere Berge. Der Moment war erhebend! Am Ende machte Marcos Antonio noch ein Foto von mir – glücklich und erledigt.
Und dann machten wir uns auf den Weg bergab. Ich hatte ja gar keine Vorstellung über was für eine wunderschöne Landschaft wir in den dunklen Morgenstunden gelaufen waren. Es war ein Gletscher mit atemberaubenden Eisformationen:
Eiskristalle, Eiskathedralen, Eiswellen, Eishöhlen, Eismauern, Eiswasserfälle.
Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland. Kein Künstler könnte solch ein Werk erschaffen. So schwer mir der Aufstieg gefallen war, so leicht schwebte ich hinunter, berauscht von meinem Gipfelerlebnis und der Schönheit um mich herum! Und ich konnte wieder frei und tief durchatmen!
Der Abstieg ging für meinen Geschmack viel zu schnell. Nach einer Stärkung am Campamiento, ging es weiter ins Tal und ehe ich mich versah, war ich wieder in La Paz. Es war erstaunlich, wie flott das ging. Erst noch Natur pur, dann die erste Straße, die erste Lehmhütte, ein paar Hütten mehr, mehr Straßen, die ersten Häuser, Straßenkreuzungen, Autos, Bullis, immer mehr Bullis… und wir waren mitten in der Stadt. Dass nur ein paar Kilometer zurück Stille und Natur lagen, war kaum noch vorstellbar.
Als ich aber abends im Bett meine Augen schloss, war das Gehupe und Gelaufe der Stadt weg, und vor meinen Augen zogen die majestätischen Schnee- und Eislandschaften vorüber. Und sie tun das immer wieder.
Auf zur nächsten Station!
Oder zurück zur Bolivien-Übersicht …