Als ich an meinem ersten Tag in Bolivien die gebratenen Kartoffeln mit Hühnchen an einem Essstand fotografierte, beschimpfte mich auf einmal die Besitzerin heftigst. Sie saß entfernt und kam plötzlich wild fuchtelnd auf mich zugeschossen. „Weg da! Weg da,“ rief sie. Alles Weitere habe ich nicht verstanden. Ich hatte die Verkäuferin vorher nicht gesehen, entschuldigte mich erschrocken und suchte schleunigst das Weite.
Was war passiert? Vielleicht war die Frau einfach sauer auf mich. Ich habe mich ja auch wie in einem Zoo benommen, als wenn alles für mich zum Angucken und Fotografieren da wäre. Wie fändest du es, wenn auf einmal jemand in deine Schule kommen und dein Pausenbrot fotografieren würde? Vielleicht glaubte die Frau aber auch, dass ich durch das Fotografieren ihrem Essen die Seele geklaut hätte. Der Glaube, dass durch Fotografieren die Seele eines Menschen, Tieres oder Gegenstandes entschwinden würde, ist in Bolivien nicht ungewöhnlich.
Von da an fand ich das Fotografieren schwierig, denn ich wollte ja Bilder machen und sah dabei keine Gefahr für die Seele. Gleichzeitig bewegte ich mich aber in einer anderen Kultur, war nur Besucherin und wollte die Menschen nicht in ihrer Privatsphäre und Glaubenswelt verletzen. Eine Zwickmühle. Ich entschied mich für einen Kompromiss: Wenn ich eine Nahaufnahme machen wollte – von Menschen, Gegenständen, Tieren, was auch immer – habe ich um Erlaubnis gefragt. Bei entfernten Motiven habe ich einfach so geknipst. Auf meiner weiteren Reise habe ich beim Fotografieren keinen Ärger mehr bekommen.
Eine Marktfrau in Oruro bat mich sogar darum, ein Foto von ihr zu machen. Mit sichtlicher Freude posierte sie für das Bild.
In Bolivien gibt es auch eine sogenannte Straßenverkehrsordnung, aber kaum jemand hält sich daran.
Das fängt schon an, wenn man sich die Fahrzeuge anschaut. DIe meisten würden den TÜV
nicht bestehen: Bremsen funktionieren nicht, Licht nur auf einer Seite, Abgase werden schwarz in die Luft gewirbelt, Gurte zum Anschnallen gibt’s manchmal, manchmal nicht etc. Es ist schon abenteuerlich, was dort auf den Straßen fährt. Unfälle sind vorprogrammiert.
Bolivianer spielen nicht freiwillig mit ihrem Leben, die allermeisten können sich mehr Sicherheit nicht leisten. Was in Deutschland ein Schrottauto wäre, wird in Bolivien immer und immer wieder repariert. Ein Gefährt ist so lange unersetzlich, wie es sich noch irgendwie fortbewegen und etwas transportieren kann.
Nur einmal ergriff mich während einer Fahrt ein mulmiges Gefühl. Der grüne Bus pfiff aus dem letzten Loch, war völlig überladen und roch unangenehm. Auf den Zweiersitzen saßen bis zu vier Leute und im Gang wurden auch noch Stühle ausgeklappt. Vorne standen einige Fahrgäste, mit denen sich der Busfahrer unterhielt, während er knapp an den Abhängen entlang fuhr.
„Nicht drüber nachdenken, die Landschaft genießen. Wird schon schief gehen!“ beruhigte ich mich und schaute bis zum Ende der Fahrt aus dem Fenster.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …
Bolivien hat seit drei Jahren zwei offizielle Flaggen:
Von 1851 bis 2009 gab es nur eine offizielle Flagge, sie war quergestreift in den Farben (von unten) Grün, Gelb und Rot. Das Grün soll die Fruchtbarkeit des Landes symbolisieren, das Gelb steht für den Reichtum an Mineralien und das Rot für die Tapferkeit der bolivianischen Soldaten. Ein Wappen, d.h. ein Bild mit für Bolivien wichtigen Symbolen, ist oft auch noch darauf. Die Wappentiere sind z.B. das Alpaka und der Andenkondor.
Seit 2009 weht vor staatlichen Gebäuden neben dem grün-gelb-roten Stück Stoff die Flagge der Volksgruppe der Aymara als weitere offizielle Staatsflagge. Ihr Farben sollen die Vielfalt der indianischen Bevölkerung widerspiegeln und in ihr finden sich die Farben der Regenbogenfahne der Inkas wieder.
Und dann gibt es noch die Flaggen der Departamentos (ähnlich den Bundesländern in Deutschland). In Oruro ist diese z.B. rot, wie auf dem Foto zu erkennen ist.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …
Einer Nicht-Bolivianerin wie mir fielen in Oruro als erstes die Cholas auf: indianische Frauen mit kurzen, aufgebauschten Faltenröcken, einer Stola über den Schultern, zwei langen, pechschwarzen Zöpfen und einem Bowler-Hut (so ähnlich wie eine Melone) auf dem Kopf balancierend.
Das Hut-Tragen ist dabei für mich ein besonderes Phänomen: Nur ein einziges Mal sah ich einen herunterpurzeln, und das auch nur, weil der Bulli in einem Affenzahn über einen großen Huckel fuhr. Hut ab!
Wie kam es zu dem Namen und dieser ungewöhnlichen Tracht?
Chola bedeutet: Mestizin (die Vorfahren waren indianischer oder europäischer Herkunft). Während der Kolonialzeit wollten sich Mestizinnen von den Frauen der Quéchua und Aymará abgrenzen. Sie kleideten sich deswegen wie die Frauen der Oberschicht, die sich Kleider im Stil der europäischen Mode anfertigen ließen. Im 18. Jahrhundert waren aufgeplüsterte Röcke und Stolen hipp, und die haben sich in Bolivien bis heute gehalten – 300 Jahre!
Und der Hut? Da gibt es verschiedene Geschichten, und eine geht so:
Ein Händler in Bolivien hatte statt der bestellten schwarzen Melonen für Männer, braune erhalten. Keiner wollte sie haben. Der Händler war jedoch pfiffig und überlegte sich eine Verkaufsstrategie: „Der letzte Schrei aus Europa! Braune Melonen für Frauen!“ Die Hüte gingen weg wie warme Semmeln.
Die Melonen machten weiter Geschichte. Die Mestizinnen wollten sich durch ihre Kleidung von den Volksstämmen der Anden abgrenzen, über die Jahre hinweg übernahmen aber gerade diese Frauen vom Land die Kleidung und bekamen den Namen Cholas. Rock, Stola und Hut waren bis ins 21. Jahrhundert hinein ein Zeichen für Armut und Rückständigkeit, d.h. „man war von gestern.“
Erst als ein Mann aus den Reihen der Volksstämme Präsident Boliviens wurde, änderte sich dieses. Heute sieht man behütete Cholas als Politikerinnen, Geschäftsfrauen und in ihren eigenen Fernsehsendungen. Ein sehr beliebter Freizeitsport ist das Cholita-Wrestling – als Teilnehmerin oder Zuschauer.
Hut, Rock und Stola stehen jetzt für Aufschwung, Ideen und die reiche Geschichte der Originales.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …
Folgendes habe ich gelesen: Wären 100 Bolivianer in einem Raum, würden 78 davon einen katholischen, 19 einen evangelischen Glauben haben, 0,5 (geht natürlich nicht) würden an Naturgötter glauben und 2,5 (auch unmöglich) hätten keinen speziellen Gott.
Und das habe ich gesehen: Auf dem Papier mögen Bolivianer nur einer Glaubensrichtung angehören, im Alltag scheint es für die meisten normal zu sein, alles zu vermischen. Am deutlichsten ist mir das in Oruro aufgefallen, wo es von einer katholischen Kirche in einem Tunnel direkt zum Minengott ging.
Für mich ist das fremd, und es passt nicht in meinen Glauben. Darüber gewundert habe ich mich aber nicht, denn den Inkas und Aymará ist der christliche Glaube brutal aufgezwungen worden. Die Taufe war keine eigene Entscheidung aus Überzeugung. Und da es in der Glaubenswelt der Anden sowieso mehrere Götter gibt, wurden Jesus, Maria und die Heiligen der katholischen Kirche einfach eingereiht.
Maria kommt dabei der Position von Pachama, der Mutter Erde, sehr nahe. Bei ihr bitten Bolivianer vor allem um Fruchtbarkeit auf dem Feld
oder um Kinder und opfern ihr dafür Coca-Blätter, Alkohol, das Blut oder die Föten von Lamas.
Dann gibt es noch die Apus, die Berggötter, die z.B. Reisenden Schutz geben sollen.
Es gibt auch noch bestimmte Berggötter mit Namen, der Illami zum Beispiel. Er soll im gleichnamigen Berg über La Paz thronen und über die Einwohner der Stadt wachen.
Und nicht zu vergessen der Ekeko, der Gott des Wohlstands. Am 24. Januar jeden Jahres werden vor allem ihm Opfer gebracht. Las Alitas (die Flügelchen) heißt dieses Fest der Wünsche. Die Wünsche werden in Kleinformat gekauft und dem Ekeko gebracht: Dollarnoten, ein Universitätsdiplom, ein Lastwagen, ein Haus und was das Herz sonst noch so begehren kann.
Das Eingreifen von übernatürlichen Wesen wird im Alltag erwartet, sei es nun vom Apu oder von der Jungfrau Maria. Wenn ich in eine Kirche gegangen bin, waren dort jedes Mal betende Menschen und vor den Altären der Naturgötter lagen immer frische Cocablätter. Der Glaube der einzelnen Menschen ist in Bolivien viel präsenter als in Deutschland.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …
Als ich an meinem letzten Tag in Chile im Hafen von Iquique auf den Bus nach Bolivien wartete, entwickelte sich ein typisches Gemeinsam-Auf-Den-Bus-Warten-Gespräch mit einem Bolivianer. Ich fragte ihn, woher er käme. „Ich komme aus Bolivien, arbeite aber in Iquique.“ „Warum?“ „In Chile gibt es bessere Arbeitsmöglich- keiten.“ „Warum?“ „Der Wirtschaft in Bolivien geht es nicht gut. Der Grund dafür ist, dass Bolivien keinen Hafen am Meer hat. Schuld daran ist Chile.“ „Aha.“
Die beiden Nachbarländer verstehen sich außerordentlich schlecht und seit 1978 sprechen die Politiker nicht mehr miteinander in der Öffentlichkeit. Bolivien hat seine Küste nach einem Krieg an Chile abgeben müssen. Dieser Verlust liegt fast 130 Jahre zurück, der Schmerz sitzt aber noch tief in der bolivianischen Volksseele. Es war ja auch gleich Thema bei meinem ersten Gespräch mit einem Bolivianer. Jeder Politiker, der Präsident werden will, verspricht im Wahlkampf dem Volk eine bolivianische Küste und jedes Jahr am 23. März, dem „Tag des Meeres“, wird lautstark an den Verlust des Meeres erinnert und die Küste zurückgefordert.
Ich habe weder mit dem Präsidenten gesprochen, noch war ich am día del mar in Bolivien, gesehen habe ich aber Schiff -Denkmäler nahe der Salzwüste und das gemalte Meer mit bolivianischen Flaggen in den Bergen.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …
Stell dir vor, in deinem Land würde jedes Jahr mehr als einmal versucht werden, die Regierung aus dem Amt zu jagen – meistens erfolgreich. Als zehnjähriges Kind hättest du ungefähr zehn Präsidenten miterlebt, die einzelnen Namen wüsstest du schon nicht mehr.
So ähnlich haben das die Bolivianer in den letzten 187 Jahren erlebt.
Als ich davon hörte, dachte ich als erstes: „Das ist ja krass!“ Und dann: „Wieso?“
Ich habe mich auf die Suche nach Erklärungen gemacht und einige in der jüngeren Geschichte Südamerikas gefunden.
Die Inkas, ein Volk aus den Anden, hatten dort vor ca. 600 Jahren viele Volksgruppen Südamerikas unterworfen und ein riesiges Reich aufgebaut. Sie waren mächtig! Dann trat eine Macht auf, die noch stärker als die der Inkas war: die Europäer, genauer gesagt die Spanier. Arme Adelige, Abenteurer oder Kriminelle sahen in der „Neuen Welt“ ihre Chance, zu Reichtum und Ruhm zu kommen.
Mit ihren Kanonen- und Gewehrkugeln eroberten sie die Inka-Gebiete und unterwarfen die Bevölkerung brutal. Sie waren gierig nach Gold und Silber, schleppten Krankheiten ein, zwangen den einheimischen Menschen ihren katholischen Glauben und eine neue Sprache auf und beuteten sie aus. Für unvorstellbar viele Indígenas (die einheimischen Menschen) bedeutete die Begegnung mit den Europäern den Tod. Die Gesandten Spaniens bauten in Mittel- und Südamerika ein Kolonialreich auf. (Portugal machte dasselbe in dem Gebiet des heutigen Brasilien, und seitdem wird dort portugiesisch gesprochen.)
Mit den Mestizen kam eine weitere Macht auf den Plan. Die sogenannten Mestizen hatten spanische und indianische Eltern, sie waren hellhäutiger als die Indios und sehnten sich nach der Macht und dem Ansehen der Spanier. Sie gewannen an Einfluss und wollten sich von den Spaniern irgendwann nichts mehr sagen lassen. Immer stärkerer Widerstand regte sich, der dann zu Kriegen um die Unabhängigkeit führte. 1825 war es dann soweit, und das heutige Bolivien und andere Länder wie zum Beispiel Argentinien und Peru erklärten sich nach viel Blutvergießen von Spanien unabhängig. Bolivien wurde nach einem wichtigen General dieses Krieges namens Bolivár genannt.
Der Feind von außen – Spanien – war gerade erledigt, da gingen die inneren Machtkämpfe los. Die Präsidenten (bis heute waren es 192 in 187 Jahren!) regierten ihr Land schlecht. Anstatt für ein gutes Leben aller Bolivianer zu sorgen, egal ob Indígenas oder Mestizen, ging es der vorherrschenden Mestizen-Schicht darum, ihren Wohlstand und ihre Macht zu sichern. Das junge Land hangelte sich von einer politischen Krise zur nächsten, und Intrigen waren an der Tagesordnung. Bolivien verlor die Hälfte seiner Fläche an die benachbarten Länder und anstatt eine eigene Identität aufzubauen, kopierte der größte Teil der Mestizen den Lebensstil der Europäer, schaffte sein Geld nach Europa und trat die indigene Bevölkerung mit Füßen.
2005 kam zum ersten Mal ein Präsident aus dem Volksstamm der Aymará an die Regierung Boliviens, Evo Morales. Er wurde zum Hoffnungsträger der indigenen Bevölkerung, die sich heute selbst originarios nennt, sie sind also original aus den Anden. Unter der Regierung von Evo Morales gewannen die Originarios an Einfluss und sitzen seither in der Regierung und im Abgeordnetenhaus. Seit 2005 kommen die Probleme der indigene Bevölkerung verstärkt zu Gehör und die Regierung versucht, ihre Lage durch neue Gesetze und höhere Gehälter zu verbessern.
Wie vor 187 Jahren ist die Kluft zwischen den Originarios und den hellhäutigen Bolivianern auch heute noch sehr tief, und das betrifft Besitz, Bildung, Beruf, Glaube etc. Die beiden Gruppen ziehen nicht „an einem Strang“, um ihr Land aus dem wirtschaftlichen Sumpf zu ziehen (es ist das ärmste Südamerikas). Das politische Hin- und Her Boliviens kommt zum Teil genau daher, denke ich.
Zurück zur Bolivien-Übersicht …