Einunddreißig Stunden Zugfahrt von Chicago nach Flagstaff - das war lang! Ich hatte mich dennoch auf diese Fahrt gefreut, ich wollte ja eine Vorstellung von der Größe des Kontinents bekommen.
Mit einem Flugzeug wäre ich nur ein paar Stunden unterwegs gewesen, hätte aber nichts der Verderung der Landschaft mitbekommen.
Also stieg ich in Chicago in den langen, silberfarbenen Zug, um vom sogenannten Midwest in den Wild West
zu gelangen. Und weil es bei der Fahrt nicht nur gen Westen, sondern auch gen Süden ging, hieß dieser Zug Southwest Chief. Mit einem schrillen Signal stampfte der
Chief, zu Deutsch der Häuptling, los.
Wir fuhren durch sieben Bundesstaaten - von Illionois, über Iowa, Missouri, Kansas, Colorado und New Mexico nach Arizona - und dabei legte der Chief ungefähr 3.000 Kilometer zurück. Ich konnte es mir auf einem bequemen Sessel in einem Waggon mit Panoramablick, auf dem sogenannten observatory deck, gemütlich machen.
Hätte ich die Reise 150 Jahre früher angetreten, wäre die Fahrt wahnsinnig anstrengend
und natürlich auch viiiiiiiiel länger gewesen. Die Route des Southwest Chiefs hatten schon die Native Americans, wie Indianer korrekter Weise genannt werden, benutzt. Später waren es dann die spanischen Eroberer und zum Schluss die US-Amerikaner.
Und bis 1885 gab es für diese Strecke keine Zugverbindung. Füße, Esel, Pferde, Leiterwagen und Postkutschen waren die gängigen
Fortbewegungsmittel . Und was man zum Überleben brauchte, organisiserten sich die Reisenden unterwegs selber durch Jagen und Sammeln. Meine Zugfahrt war dagegen sehr
gemütlich.
Durch die großen Zugfenster hindurch blickte ich über die immensen Flächen des Midwest. Diese Endlosigkeit kannte ich aus
Europa einfach nicht. Während der Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang veränderte sich die Landschaft kaum. Unglaublich!
Irgendwann konnte ich dann doch in der Ferne ein paar Bergspitzen sehen - die Ausläufer der Rocky Mountains.
Eine Überquerung des Mississippis lag auf unserer Strecke: Der Zug fuhr über die längste Doppeldeckerbrücke der Welt über den größten Fluss Nordamerikas. Nicht schlecht, aber ich habe geschlafen! Es war Nacht.
Solche Informationen bekam ich von meinem Reiseführer, der über alle Zugstrecken in den USA berichtete – USA by Rail . Zu jedem Dörfchen, durch das wir fuhren, hatte er ein paar Geschichten parat.
In der Stadt Marceline zum Beispiel wurde Walt Disney geboren, aus Kansas City kam Harry S. Truman (ein bekannter US-Präsident), Dodge City war zur Zeit des Wilden Westens die Cowboy Hochburg schlechthin und in Holcomb wurde ein furchtbarer Mord begangen.
Wir fuhren hier an einer alten Goldmine vorbei, dort fand eine Schlacht zwischen Native Americans, Spaniern oder US-Amerikaner statt und irgendwo hatte ein Hurricane schlimme Verwüstungen angerichtet. Und immer wieder die unendlich wirkende Landschaft. Ach ja, auch in Las Vegas machte der Zug Halt, aber an den Spielhöllen war ich nicht interessiert. Mit 17 Jahren hatte ich mir die blinkende Wüstenstadt mal angeschaut, das reicht für ein Leben.
Ich habe übrigens nicht nur stumm aus dem Fenster geschaut, sondern mich oft mit anderen Passagieren unterhalten. Mit Amerikanern kommt man ja herrlich schnell ins Gespräch. Ich saß neben verschiedenen Künstlern, strikten Quäkern, einem Psychologen aus New York, einer Kosmetikvertreterin aus Los Angeles, einem Autoverkäufer...langweilig ist es eigentlich nicht geworden.
Das Einzige, was wirklich nicht gut war, war das Boardrestaurant. Das Essen war schlichtweg grottig. Zum Frühstück wurde das labbrigste und geschmackloseste Weißbrot, das ich je gegessen habe, angeboten. Zum Glück hatte ich mich mit Obst, Gemüse, Müsliriegeln und Schokolqde in Chicago eingedeckt.
In Flagstaff, Arizona, stolperte ich nachts aus dem Zug. Der Name der Stadt soll auf einen simplen Flaggenmasten zurückgehen, der zur Feier des hundertsten Geburtstags der USA von Siedlern auf dem Weg nach Westen aus einer Pinie gebaut worden sein soll. Dass diese Pinie so bekannt werden würde, hatten die Siedler damals wohl nicht gedacht.
Flagstaff ist nicht groß, hat aber 58 Kirchen und 26 verschiedene Religionsgemeinschaften. Ganz schön viel, oder? Da ist es nicht verwunderlich, dass ich auf einer christlichen Strickparty gelandet bin. Das war sehr witzig, und ich bekam die Idee für das erste Weihnachtsgschenk - ein Wollpulli für meine Nichte.
Aber ich bin ja nicht in Flagstaff ausgestiegen um zu stricken. Nein, ich wollte zum
gigantischen, großartigen, imposanten, gewaltigen Grand Canyon.
Siebzehn Jahre zuvor hatte ich schon mal Rande dieser unglaublichen Schlucht gestanden, und dieses Mal war ich genauso berührt und ehrfürchtig wie beim ersten Mal. Wenn du das Foto betrachtest, kannst du eine Idee von dem Gefühl bekommen.
Die Größe und die Farbenpracht bei Sonnenuntergang sind einfach überwältigend. Die Steinschichten leuchten orange und rot, durchzogen von braunen und beigen Linien. Dazwischen grüne Tupfer von Büschen. Und Stunde um Stunde arbeitet sich der Colorado River am Grund der Schlucht seit Millionen von Jahren an den Steinen ab und schuf so this majestic hole, dieses majetätische Loch.
Der Grand Canyon hatte sich für mich in der Zeit zwischen meinen Besuchen nicht verändert, aber in der Welt war so viel passiert. Beim ersten Besuch ging ich noch zur Schule, Deutschland war noch geteilt, an ein Notebook oder Smartphone habe ich noch nicht gedacht, meine Neffen und meine Nichte waren noch nicht geboren, das World Trade Center stand noch und und und. Der Gand Canyon blieb von all diesen Ereignissen unberührt.
Als ich so gedankenverloren in die Weite blickte, blieb die große Uhr für einen Moment stehen. Ruhe. Zeitlosigkeit. Demut. Kein Wunder, dass sich in Flagstaff so viele Menschen mit dem Glauben beschäftigen. Ich habehier auch viel über Gott, die Welt und mich nachgedacht.
Auf zur nächsten Station!
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